Gilt das Gesetz im neuen Bund?

von Bernd Fischer

Ausgangspunkte der wahren Lehre zum Gesetz

In der älteren Christenheit war die Gültigkeit der 10 Gebote im Neuen Bund allgemein anerkannt. Luther habe in einer Predigt 1525 geschrieben: „Das Gesetz Moses geht die Juden an, es bindet uns somit von vornherein nicht mehr.“ und „Mose ist tot, sein Regiment ist aus gewesen, als Christus kam; seither gilt er nicht“. Mit dieser leichtfertigen Behauptung war Luther bei seiner Wiederentdeckung des biblischen Evangeliums ebenso über das Ziel hinaus- geschossen wie mit seiner Infragestellung des Jakobusbriefs und der Johannesoffenbarung. Er ließ sich aber von seinen Freunden korrigieren und ließ diese beiden Bücher in der Bibel stehen und nahm auch die 10 Gebote in seinen Katechismus auf. Damit hatte er seine falsche Behauptung zum Gesetz praktisch widerrufen. Heute sprießen die neuen Lehren, die die Gültigkeit des AT im Neuen Bund bestreiten, wie Pilze aus dem Boden. Dabei erfindet fast jeder dafür eine neue Begründung. Allen gemeinsam ist, dass sie dabei die Grundsatzaussage des HErrn in Matthäus 5,17-20 ignorieren.

In diesem Aufsatz werden nur die grundlegen- den biblischen Aussagen für die Geltung der Gebote des AT auch im Neuen Bund gebracht. In einem weiteren Aufsatz  werden dazu ergänzende Gesichtspunkte behandelt: Wahre Lehre zum Gesetz 2

1. Das fundamentale Zeugnis des Herrn Jesus, des Mose und der Apostel zum Gesetz

Bei der Frage, wie weit das AT im Neuen Bund gilt, wie auch bei jeder anderen Lehrfrage, sollte man die Antwort nicht zuerst irgendwo in der Bibel suchen, sondern zuerst darauf achten, was der HErr Jesus selbst dazu gesagt hat. Dieser Grundsatz ist auch aus 1. Timotheus 6,3 zu entnehmen. In Seiner programmatischen Bergpredigt macht der HErr zu unserer Frage Aussagen von fundamentaler Bedeutung in Matthäus 5:

Meint nicht, dass Ich gekommen sei, das Gesetz oder die Propheten in jeder oder beliebiger Beziehung zu lösen; Ich bin nicht gekommen, sie in jeder oder beliebiger Beziehung zu lösen, sondern sie voll zu verwirklichen (a.: sie auf ihr Vollmaß zu bringen / sie zu vervollständigen. Denn wahrlich, Ich sage euch: Bis der Himmel und die Erde vergehen, soll auch nicht ein Jota oder ein Strichlein von dem Gesetz vergehen, bis alles geschehen ist. (Mt.5,17-18)

Die Übersetzung von KATArLY´Oo in seiner allgemeinen wörtlichen Bedeutung „in jeder oder beliebiger Beziehung zu lösen“, zeigt klarer, als die übliche Übersetzung „auflösen“, was der HErr hier meint. Im rabbinischen Sprachgebrauch bedeutete „lösen“ soviel wie „für erlaubt/ unverbindlich erklären“ im Gegensatz zu „binden = für verboten/ verbindlich erklären“. Diese Bedeutung hat das Gegensatzpaar „binden – lösen“ in Matthäus 18,18.

Der HErr Jesus ist nun tatsächlich gekommen, um das Gesetz in gewisser Beziehung zu lösen, für unverbindlich zu erklären, aber eben nicht in jeder oder in beliebiger Beziehung. Die Frage, in welcher Beziehung das Gesetz im Neuen Bund für unverbindlich erklärt wird und in welcher Beziehung es weiterhin verbindlich bleibt, beantworten uns die Aussagen des HErrn und Seiner Apostel im NT und damit übereinstimmend sogar auch das AT.

Unmittelbar anschließend an Seine oben zitierten Worte sagt der HErr:

Wer nun eins dieser geringsten Gebote auflöst (griech. LY´Oo) und so die Menschen lehrt, wird der Geringste heißen in der Königsherrschaft der Himmel; wer sie aber tut und lehrt, dieser wird groß heißen in der Königsherrschaft der Himmel. (Mt.5,19)

Hiermit schließt der HErr ausdrücklich aus, dass irgendein Gebot des AT gelöst, d.h. für unverbindlich erklärt wird. Diesen Grundsatz bestätigt der HErr auch in einer späteren Fundamentalaussage:

Das Gesetz und die Propheten gehen bis auf Johannes; von da an wird die Königsherrschaft Gottes als Evangelium verkündigt, und jeder dringt mit Gewalt hinein. Es ist aber leichter, dass der Himmel und die Erde vergehen, als dass ein Strichlein des Gesetzes wegfalle. Jeder, der seine Frau entlässt und eine andere heiratet, begeht Ehebruch; und jeder, der die von einem Mann Entlassene heiratet, begeht Ehebruch. (Lk.16,16-18 ähnlich Mt.11,11-13)

Mit „Gesetz und Propheten“ meint der HErr hier wie in Matthäus 5, 17 das ganze Alte Testament und den darin gültigen Alten Bund. In diesem AT ist für die Zukunft ein Neuer Bund mit besseren Grundlagen als die des Alten angekündigt (Jes.55,3, 61,8; Jer.31,31-33, 32,40, 50,5; Hes.16,60, 37,26), der für alle Zukunft Bestand haben soll. Der im AT ebenfalls angekündigte Herold dieses Neuen Bundes (Jes.40,3; Mal.3,1) ist Johannes der Täufer, was der HErr hier bestätigt. Nach der Aussage des HErrn gehört Johannes der Täufer selbst noch zu dem alten Gesetzesbund, aber dieser endet mit ihm. Weiterhin sagt der HErr, dass mit diesem Neuen Bund die Königsherrschaft Gottes (= die Königsherrschaft der Himmel) beginnt. Der HErr Jesus gibt also hiermit eine klare Grenzziehung (Schriftteilung) zwischen dem Alten und dem mit Ihm gekommenen Neuen Bund an. Aber um Missverständnissen vorzubeugen, sagt Er im gleichen Atemzug im Vers 17 (wie in Mt.5,18), dass kein Strichlein vom Gesetz wegfällt oder hinfällig wird. Dazu fügt Er unmittelbar eine bestätigende Aussage zum 7. Gebot, dem Ehebruchverbot hinzu, als Beispiel dafür, wie Er das meint. Er meint das offensichtlich so, dass die Zehn Gebote, aufgrund derer der Gesetzesbund geschlossen wurde (2Mose34,1+27-28), in der mit Ihm gekommenen Königsherrschaft Gottes weiterhin gelten, und zwar in ihrer ganzen Weite und Tiefe und Schärfe, wie Er sie bereits in der Bergpredigt an Hand mehrerer Beispiele aufgezeigt hatte.

Damit bestätigt der HErr die bereits durch Mose gemachte Grundsatzaussage:

Das Verborgene steht bei dem HERRN, unserm  Gott; aber das Enthüllte gilt uns und unsern Kindern bis in Äonenzeit, zu dem Zweck, dass wir alle Worte/ Sachinhalte dieses Gesetzes tun. (5Mose29,28 )

Das damals Enthüllte waren die Zehn Worte (Sachen; Sachverhalte/ Sachinhalte) als gültiger Inhalt des damals  geschlossenen Bundes. Das damals noch Verborgene war der Neue Bund (mit dem darin enthaltenen Geheimnis (Apg.13,38; Röm.16,25; Eph.3,3-6), der erst später angekündigt und noch später enthüllt wurde. Aber sowohl für das schon im Alten Bund Enthüllte, als auch das erst im Neuen Bund Enthüllte, gilt gemeinsam und unveränderlich: das Tun aller Sachinhalte des mosaischen Gesetzes, die grundlegend in den 10 Geboten, der Charta der Gottes- und Menschenrechte, festgelegt sind. Übereinstimmend mit den Worten des HErrn und des Mose hat auch Paulus geschrieben:

Die Beschneidung ist nichts, und das Unbeschnittensein ist nichts, sondern das Hüten (= planmäßige und aufmerksame Im-Auge-Haben und Befolgen) der Gebote Gottes. (1Kor.7,19)

Ich gebiete dir vor Gott, der allem Leben gibt, und vor Christus Jesus, der vor Pontius Pilatus das gute Bekenntnis bezeugt hat, dass du das Gebot fleckenlos, unangreifbar hüten sollst bis zur aufsichtbaren Erscheinung unseres Herrn Jesus Christus! (1Tim.6,13-14)

Die Einzahl „das Gebot“, kann man als Zusammenfassung aller im 1. Timotheus-Brief gegebenen Anweisungen verstehen. Mindestens ebenso berechtigt, kann man sie aber auch als Sammelbegriff für die Gesamtheit aller Gebote Gottes verstehen, wie sie an vielen Stellen im AT gemeint ist (z.B. 2Mose24,12; 5Mose5,31; 6,1; 7,11). Übereinstimmend damit wird in Offenbarung 12,17 von den Gläubigen, die bis zur sichtbaren Wiederkunft des HErrn auf Erden bleiben, gesagt, dass sie „die  Gebote Gottes hüten und die Bezeugung Jesu haben und festhalten“.  Übereinstimmend mit dem HErrn Jesus, Mose und Paulus bezeugt auch Johannes in Joh.14, 15+21; 15,10; 1Joh.2,3+4; 5,2-3; 2Joh.6, dass das Hüten (= aufmerksame Beachten und Befolgen) der Gebote Gottes Kennzeichen der Liebe zu Gott und zum Bruder ist.

2. In welcher Beziehung wird das Gesetz im Neuen Bund für unverbindlich erklärt?

Zur Beantwortung dieser Frage ist Römer 7,12 aufschlussreich:

So ist also das Gesetz heilig und das Gebot heilig und gerecht und gut.

Das Gesetz ist zwar heilig wie auch das darin enthaltene Gebot, aber gerecht und gut ist nur das Gebot. Das Gesetz ist demnach weder gerecht noch gut. Hier kann nur der alte Gesetzesbund gemeint sein, durch den niemand wirklich gerecht und gut werden kann. Im scheinbaren Gegensatz dazu sagt Paulus gleich danach in Römer 7,16:

Wenn ich aber das, was ich nicht will, ausübe, so stimme ich dem Gesetz bei, dass es vortrefflich ist

Hier ist nach dem Zusammenhang mit „Gesetz“ nicht der Gesetzesbund gemeint, sondern das in diesem Gesetzesbund enthaltene Gebot („du sollst nicht begehren“ V. 7) bzw. alle 10 Gebote. Um die z.T. positiven und z.T. offensichtlich negativen biblischen Aussagen über das Gesetz richtig zu verstehen, muss man unterscheiden, was mit dem Begriff „Gesetz“ im NT jeweils gemeint ist.

3. Die Bedeutungen des Begriffs „Gesetz“ im NT

Das Wort „Gesetz“ (griech.: NO´MOS) kann im NT bedeuten:

  • das ganze AT (M5,18/ L16,17; M23,23; J10,34; 12,34; 15,25; Rö3,19; 1Ko14,21; Ga5,14; Ph3,5; Hb10,1)
  • die fünf Bücher Mose (Mt5,17; 7,12; 11,13; 22,40; Lk16,16; 24,44; Jh1,45; Ap13,15; 24,14; 28,23; R3,21b; 1K14,34; G4,21b; 5,3.14; Ep2,15)
  • den durch Mose mit Israel am Sinai geschlossenen Gesetzesbund (Mt22,36; Lk10,26; 16,16; Jh1,17; 7,19.23.49.51; Ap13,38; 15,5; Rö2,12; 3,19b.21a.27a.28; 4,13.14.15.16; 5,13.20; 6,14.15; 1Ko9,20; 15,56; Ga2,16.19.21; 3,2.5.10.11.12.13.17.18.19. 21.23.24; Ep2,15; Ph3,5.6.9; 1Ti1,8-9 Hb7,5.12.19.28)
  • den Vertragsgegenstand, das Grundgesetz dieses Gesetzesbundes = die 10 Gebote, einschließlich deren Ausführungsbestimmungen im AT (Lk16,17; Jh1,17; 7,19; Ap7,53 Rö2,13; 3,31; Ga5,14; 6,13; Ep2,15; Hb8,10/ 10,16; Jk2,9.10.11; 4,11)
  • den zeremoniellen Teil des mosaischen Gesetzes (Mt12,5;  Lk2,22.23.24. 27.39; Jh7,23; Ap15,5; (18,13.15; 21,20.24.28 25,8); Rö3,31 (übertrag.); 1K9,8.9 (übertr.); Ga5,3 (buchstäbl.))

An den vielen Stellen, an denen mit „Gesetz“ der Gesetzesbund vom Sinai gemeint ist, sind meist einer oder mehrere der – für sich betrachtet – negativen Aspekte dieses Gesetzesbundes im Blick, deren positiver Wert erst und nur durch den Neuen Bund zum Tragen kommt. Diese negativen Aspekte sind im Wesentlichen:

  • die prinzipielle Unfähigkeit und Erfolglosigkeit dieses Gesetzesbundes, etwas zur Vollendung zu bringen (Heb.7,18-19), wegen der Kraftlosigkeit des Fleisches (Röm. 8,3); erfolglos insbesondere zur juristischen und praktischen Gerechtmachung (Röm 3,20; Eph. 2,9) im Hinblick auf die Erfolgsbedingung (diese Dinge getan haben 3.Mose 18,5; Röm. 10,5) des Gesetzesbundes und dessen Misserfolgsfolge, den Fluch (5Mose27,26; Gal.3,10), so dass dieser Gesetzesbund zu einem Dienst des Todes (2Kor.3,7) und einem gegen uns gerichteten Schuldschein wurde (Kol.2,14) und unseren Tod bewirkte (Röm.7,10-11)
  • der tote Buchstabencharakter (Röm.2,29; 7,6; 2Kor3,6), der Schattencharakter (Kol.2,17; Heb.8,5; 10,1) und der Satzungscharakter dieses Gesetzesbundes als „Gesetz der Gebote in Satzungen“ (Eph.2,15; Kol.2,14).

Aus diesen negativen ergeben sich aber auch positive Aspekte des Gesetzesbundes:

  •  seine Funktion als Mittel zur Erregung und Offenbarmachung und Erkenntnis der Sünde (Röm.7,5.7-9) und der Sündennatur unseres Fleisches (Röm.7,17-18+23) und dessen gottfeindlicher Gesinnung (Röm.8,6-8)
  • und dadurch seine Erziehungsfunktion als Erzieher zu Christus hin (Matt.19,17; Joh.7,17; Gal3,24)

An vielen, auch an vielen der als Beispiel angeführten Stellen sind mit „Gesetz“ mehrere der oben angeführten Aspekte gleichzeitig gemeint. Betrachtet man – mit den Grundsatzaussagen des HErrn im Ohr und im Herzen – sorgfältig alle negativen Aussagen des NT zum Gesetz, sieht man, dass sie sich alle auf den mosaischen Gesetzesbund oder Teilaspekte dieses Gesetzesbundes beziehen, aber nicht auf den Vertragsgegenstand dieses Bundes, die 10 Gebote. Dies gilt auch für Hebräer 7,18:

Denn es geschieht zwar eine Aufhebung des vorhergehenden Gebots betreffs des aaronitischen
Priestertums wegen seines Schwachseins und Nutzlosseins.

Hier ist mit „Gebot“ keines der 10 Gebote, sondern das aaronitische Priestertum gemeint. Das Priestertum als solches wird aber NT jeweils auch im Neuen Bund nicht aufgehoben, sondern nur die Ordnung Aarons durch die Ordnung Melchisedeks ersetzt (Heb.7,11).

Bernd Fischer

Anmerkung: alle Bibelstellen entstammen der Elberfelder Übersetzung und sind von Bernd Fischer mit Anmerkungen versehen:  https://www.xn--gt-bibel-75a.de/index.php/home